Egbert Meissenburg (26.6.1937 – 29.12.2023)

Ein Nachruf

Seevetal, ca. 2006/07
Seevetal, ca. 2006/07

von Siegfried Schönle

" ...wer interessiert sich denn schon dafür?“ So lautete sinngemäß der schnell formulierte und abweisende Kommentar des Verstorbenen, als der Verfasser ca. 2006 Egbert Meissenburg am Telefon zu seiner Person einige Fragen stellten wollte, doch dann ergab sich eine weitere persönliche Begegnung bei Kaffee und Kuchen in Seevetal.

In wenigen Zeilen wird sich nur schwerlich ein nunmehr beendetes 86jähriges Leben pressen lassen, ein fast 60jähriges Schachschaffen in diesem Nachruf ganz sicher auch nicht.

Am 26.6.1937 wurde Egbert Meissenburg in Kolberg, eine pommersche Hafenstadt, dem heutigen Kolobrzeg, im Norden Polens an der Ostsee geboren. Dort verbrachte er etwa acht Jahre, bis seine Eltern am Ende des 2. Weltkrieges, im März 1945, fliehen mussten. Die Familie kam nach Hahndorf bei Goslar (Harz), wo der Achtjährige nach einiger Zeit die Schule besuchte. 1952 schenkte ihm ein Onkel sein erstes Schachbrett und im gleichen Jahr erhielt er auch sein erstes Schachlehrbuch – eines von Alfred Brinckmann, wie er erinnerte. Den Goslarer Schachverein besuchte er nur wenige Male, u.a. auch deswegen, weil der Weg von Hahndorf nach Goslar zu den Spielzeiten zu unangenehm war.

Nach der Beendigung seiner Schulzeit begann Egbert Meissenburg ein Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, setzte dieses in Köln und in Freiburg im Breisgau fort, um es in Hamburg zu beenden. Damals war auch noch das runde Leder interessant und auch als Langläufer betätigte sich der Student. Er arbeitete zunächst am Oberlandesgericht in Celle.

Sein erstes Gastreferendariat verbrachte er etwa 2 Monate lang am Arbeitsgericht in Bamberg. Dort wohnte er, auch weil seine schachlichen Interessen schon sehr ausgeprägt waren, im Hause des Großmeisters Lothar Schmid. Er hatte Zugang zu allen Teilen der Sammlung Lothar Schmids und dokumentierte dies in einem „Teilverzeichnis der Schachbibliothek Lothar Schmid (Bamberg) nach dem Stande vom 30. Mai 1965...“ [aucta Nr. 764]. Sehr bald zeigte sich sein ausgeprägtes Interesse an der Schachbibliographie und er sollte es auch in den folgenden Jahrzehnten nicht verlieren, sondern sehr intensivieren. Die Bibliothek des Großmeisters beeindruckte ihn offensichtlich so sehr, dass der Aufenthalt einen zweiten Aufsatz 1968 nach sich zog, der in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Schachclubs Bamberg unter dem Titel „Eine Schachbibliothek in Bamberg“ [aucta Nr. 779] veröffentlicht wurde.

An dieser Stelle soll seine intensive Mitarbeit an dem Katalog „Bibliotheca Van der Linde-Niemeijeriana aucta et de novo descripta. A catalogue of the chess collection in the Royal Library, The Hague“ [26 Titel enthält dieser auf seinen Namen] durchaus nicht verschwiegen und die Druckfahnen zu diesem Katalog könnten in seiner Bibliothek heute noch studiert werden.

Das zweite Gastreferendariat fand am Verwaltungsgericht in Berlin statt. Immer, wenn die Juristerei ihm zu langweilig wurde, beschäftigte sich der junge Referendar in der Staatsbibliothek oder anderen Stätten des Buches, selbstverständlich stets um Schach suchend bemüht.

Im Jahre 1968 wurde er Rechtsanwalt und im Jahre 1973 Notar. Ende der siebziger Jahre lernte er seine Frau kennen, die er 1984 heiratete. Sein Berufsleben beendete Egbert Meissenburg 2003.

In Winsen/Luhe (bei Hamburg) fand er seine erste Arbeitsstelle und deshalb tragen die Ortsangaben seiner Veröffentlichungen aus dieser Zeit diesen Namen. Der junge Rechtsanwalt spielte sonntags auch Partieschach im dortigen Verein und als dies aus Zeitgründen zu aufwendig wurde, widmete er sich dem Fernschach. In der ersten Klasse begann er und spielte sich bis zum Hauptturnier hoch. Wen wundert es, dass diese schachsportlichen Betätigungen auch ihren Niederschlag in bibliographischen Veröffentlichungen fanden. Zu nennen sind hier etwa die Schriften „Die Geschichte des Fernschachspiels bis 1800“ [aucta Nr. 768] oder, um das zweite Hauptinteresse zu zeigen, „Aus der Bibliographie unseres Spieles: Krefelds Beiträge zur Fernschachgeschichte“ [aucta Nr. 771].

Forscher, Sammler, Bibliograph, Verleger ...

Die Geschichte des Schachspiels, seine bibliographische Erforschung, Schach und andere Wissensgebiete wie Psychologie, Mathematik, Informatik, Philosophie, Kunst, Philologie, Schach in der Belletristik, weitere Teilgebiete könnten noch angeführt werden, bildeten das vielfältige Zentrum seiner Forschungen in den Jahrzehnten nach seinem Studium und auch bis wenige Jahre vor seinem Tod und keineswegs war er der Ansicht, dass so langsam alles erforscht worden sei.

Mit Erstaunen kann erinnert werden, dass frühe Sammelgebiete nur schwer mit Schach in der Hauptsache zu verbinden sind. Bücher zur Geschichte der Bibliotheken und „Die schönsten Bücher...“ sammelte er fleißig in Winsen und ob eine auch heute noch verwendete Bibliographie [Josef Hegenbarth - Bibliographie des Illustrationswerks, von Egbert Meissenburg. Aus: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel: 8.1968, S. 165-172] zu dem Buchillustrator Josef Hegenbarth ein „Fehltritt“ neben das Schachbrett zu nennen ist, soll hier nicht entschieden werden.

Ein Sammler lebt auch von seinen vielfältigen Kontakten und das bedeutete damals und eingeschränkt heute: Briefe schreiben! Und seit einigen Jahren überwiegend: Emails tippen!

Der Leser möge sich auf eine kleine (Namens)Reise durch Europa begeben, eine Schachreise natürlich, die im Norden beginnen soll.

Dänemark: B.B. Jensen;
Schweden: A. Hildebrand;
Lettland: I. Blans;
DDR: Joachim Petzold;
Polen: J. Gizycki;
Russland: Nikolaj Sacharow, I. Linder, Y. Averbakh;
Ungarn: Arpad Földeak;
Österreich: Ernst Strouhal, M. Ehn;
Italien: A. Sanvito, F. Pratesi, G. Ferlito, A. Chicco;
Schweiz: R. Blass;
Frankreich: J. Mennerat;
Belgien: A. Floh;
Niederlande: M. Niemeijer, Chr. Bijl;
Großbritannien: K. Whyld, M. Mark;
Spanien: R. Calvo
Bundesrepublik: Herbert Wellenhofer, Gerd Meyer, Lothar Schmid, Horst Helten, Helmut Faust, Willi Summ, Maria Schetelich, Gerhard Josten, Renate Syed – und da jede Reise ein Ende hat, sei nun auch diese hier abrupt beendet.

Die Schachbibliothek in Seevetal, vormals Winsen/Luhe, erstaunte zahlreiche Besucher ob der Fülle und Vielfältigkeit des Schachmaterials. In dem Gästebuch blätternd, lassen sich u.a. die folgenden Namen finden: F. Schwenkel, W. Harenberg, O. Dietze, L. Schmid, H. Helten, Seegebarth, M. Eder, H. Balló, D. Steinweder, B. Grünberg, Marianne und Hans Krieger, Hans und Barbara Holländer, M. Mittelbach, G. Josten, S. Schönle, P. Banaschak, G. Meyer und N. Frieberg.

Nennt diese Liste die Besucher in Seevetal, so liegt es nahe, auch an die Besuche zu erinnern, die der Forscher anderen privaten Schachbibliotheken abstattete. Diese Besuche, unterschiedlich motiviert, seien hier gelistet: L. Schmid (Bamberg), Thomas Thomsen (Königstein), M. Mittelbach (Hamburg), G. Meyer (Lübeck), H.-J. Fresen (Bochum), Hans Krieger (Hamburg), Hess und Summ (Frankfurt), S. Schönle (Kassel), B.B. Jensen (Bronshoj), Christian Bijl (NL), M. Eder (Kelkheim) und E. Bachl (Worms).

Bibliothek Kornik, Oktober 2003
Bibliothek Kornik, Oktober 2003

Aus seinem reichhaltigen Schaffen sollen die „Schachbuch-Besprechungen“ (1967 – 1971) hervorgehoben werden und vor allem, für die deutsche Schachforschung prägend zu nennen, sind die „Schachwissenschaftlichen Forschungen (1972 – 1975). Diese Schachforschungen wurden in den Jahren 1975 bis zum Ende seines Lebens stetig weiter betrieben und führten zu der ansehnlichen Liste von über 74 Veröffentlichungen laut Deutscher Nationalbibliothek / Frankfurt, die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek / Niedersächsische Landesbibliothek nennt 50 Titel und der catalogus der KB-Haag gelangt unter der Eingabe - Egbert Meissenburg - gar zu 95 Einträgen. Darunter solche zur Schachnovelle von Stefan Zweig, einem Lieblingsgebiet des Verstorbenen, zur Genese des Neuschachs und zu Entwicklungstendenzen im mittelalterlichen abendländischen Schachspiel. Biographische Studien zu S. Tarrasch, Em. Lasker und van der Linde wurden abgelöst oder unterbrochen durch Arbeiten zu Fragen des Urschachs.

"Vom 2. bis 4. August 1991 begrüßte Dr. Thomsen, der stets die Zusammenarbeit von renommierten Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen anstrebte, 14 Schachhistoriker in seinem Haus in (Hessen), um Fragen der Ursprünge und der frühen Geschichte des Schachs zu diskutieren. Zu den Teilnehmern gehörten GM Juri Awerbach ..., IM Ricardo Calvo, Irving Finkel, GM Lothar Schmidt, Isaak Linder und Egbert Meissenburg. Aus diesem ersten Treffen ging die sogenannte "Initiativgruppe Königstein" hervor, die sich der Erforschung der Frühgeschichte des Schachs widmete. Seitdem haben die Mitglieder der Gruppe wichtige Studien zur Schachgeschichte durchgeführt und veröffentlicht und auf die Bedeutung der schachhistorischen Forschung hingewiesen (siehe: Egbert Meissenburg, „Einige Fakten, Daten und bibliographische Angaben über die Initiativgruppe Königstein (IGK)", in: G. Josten, Über den Ursprung des Schachs, Köln 2006). Zu erwähnen ist hier der „Okkasionelle Rundbrief", herausgegeben von Egbert Meissenburg, sowie „Scacchia Ludus", herausgegeben von Hans Holländer und Ulrich Schädler (Aachen 2008)." (Ulrich Schädler)

Einige Treffen der CCI und der IGK bereicherte Egbert Meissenburg durch seine sachkudigen Vorträge. Vor allem auch an seine mehrfachen Forschungsreisen zur Biblioteka Kórnicka, Polska Akademia Nauk , um in der Schachbibliothek Tassilo von Heydebrand und der Lasa zu arbeiten (siehe Titel!) sei hier auch erinnert.

Eine Art Zwischenbilanz seiner vielfältigen Arbeiten legte E. Meissenburg 1987 vor. Er nannte sie „Ungelesenes und Gelesenes 1962 – 1987. 25 Jahre Schachschreiben – Schachverlegen – Schachübersetzen. Selbstbibliographie ohne biographische Daten.“ Auf diese 80 Seiten umfassende Broschur, die wie die meisten seiner Publikationen in den großen Bibliotheken eingesehen werden kann, wird hier gerne hingewiesen.

Der Sammler Egbert Meissenburg schrieb seit 1958 kontinuierlich an dem Erwerbungsverzeichnis seiner Bestände. Die ersten vierzehn Jahre ließ er in blaues Halbleder binden. In jedem Jahr wurde ein neues Verzeichnis angelegt und die Zählung der Erwerbungen beginnt jeweils bei Eins. Seine für Deutschland und auch im weltweiten Maßstab sehr bedeutende Schachsammlung wurde mehrfach beschrieben. In chronologischer Reihenfolge zuerst in Walther Gebhardt >Spezialbestände in deutschen Bibliotheken< 1977 dann im >Mitteilungsblatt der Bibliotheken in Niedersachsen< April 1980 und zuletzt 1998 im >Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland<, dort im Band 2.2. Niedersachsen H-Z, S.194ff.

In seinem Leben begegnete er nicht nur der Schachszene bekannte Persönlichkeiten. In Hamburg A. Buschke, dessen Schachantiquariat sicher auch Quelle zur Erweiterung der eigenen Bestände gewesen ist. Schon lange vor der Öffnung der Grenze hatte er gute Kontakte zu Prof. Joachim Petzold und erwähnenswert ist bestimmt auch, dass er Dr. Meindert Niemeijer in der Königlichen Bibliothek zu den Haag traf. Die KB gehört zu den zahlreichen Bibliotheken, in denen Egbert Meissenburg Tage und Wochen forschend verbrachte, sie ist eine von vielen, deren Schachbestände er sicher sehr gut kannte.

Nach ca. 60 Jahren sammlerischer Betätigung ist es verständlich, wenn er zum Ende hin keine besonders stark ausgeprägten Erwerbungswünsche mehr besaß, seine Schaffenskraft auch nachließ.

Der Verfasser dieses Nachrufes verdankt dem Verstorbenen aus dem Verlauf von ca 30 Jahren überaus viel. Stets großzügig und hilfsbereit bei allen Anfragen, stets offen dafür, seine Erkenntnisse mir und allen Interessierten mitzuteilen. Als ein Zeichen seiner Wertschätzung als Wissenschaftler und Mensch kann angesehen werden, dass in der Festschrift anläßlich seines 70. Geburtstages ca. 50 Beiträger aus Europa sich zusammenfanden. Es bleibt zu wünschen, dass zahlreiche von der Kulturgeschichte des Schachs in all ihren Facetten Begeisterte ihn in guter und lang andauernder Erinnerung behalten.

Seiner Frau und allen Angehörigen sprechen wir hier unsere aufrichtige Anteilnahme aus.

Siegfried Schönle, Januar 2024

[Der Text dieses Nachrufes folgt in Teilen den biographischen Bemerkungen in: Schönle, Siegfried [Hrsg.]. Festschrift für Egbert Meissenburg. Schachforschungen. Vindobona (Wien), Aufl.: 2008/2009: Refordis Verlag]

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